Kapitel 22
Tommy, 4. November 2008
Im Laufe der Zeit hatte die Staatsanwaltschaft wie jede andere Institution ihre ganz eigene Etikette entwickelt. Der Boss rührte sich nicht vom Fleck. Der Oberstaatsanwalt betrat morgens mit dem Aktenkoffer unter dem Arm sein Büro und verließ es nicht mehr außer zum Lunch oder für Gerichtstermine. Nominell war das ein Zeichen der Achtung. Wer mit ihm sprechen musste, kam zum Berg. Doch in Wahrheit schützte diese Praxis die lockeren Umgangsformen im Büro der Staatsanwaltschaft. Da standen Männer dreißig Meter voneinander entfernt auf dem Gang und erörterten ihre Fälle, während sie sich einen Softball zuwarfen. Jeder konnte »Scheiße« sagen, so laut er wollte. Staatsanwälte konnten über Richter herziehen, und Cops konnten große Reden schwingen. Im Allerheiligsten seines Büros wahrte der Oberstaatsanwalt eine Würde, die der Alltag seiner Behörde niemals widerspiegeln würde.
Die Folge davon war, dass Tommy sich manchmal regelrecht eingesperrt fühlte. Er hatte nur über Sprechanlage oder Telefon Kontakt zur Außenwelt. Über dreißig Jahre lang war er über die Flure gewandert, hatte in das ein oder andere Büro geschaut und über Fälle und die Kinder zu Hause geredet. Und im Augenblick war er die Warterei satt. Heute Morgen war Brand als Erstes zu einer Besprechung im Kriminallabor gegangen, wo man ihm die DNS-Ergebnisse der zwanzig Jahre alten Spermaprobe von dem Prozess gegen Sabich mitteilen würde. Inzwischen hatte Tommy sein Büro schon sechsmal verlassen, um nachzuschauen, ob Brand wieder da war.
Die Tatsache, dass diese Ergebnisse Tommy in die eine oder andere Richtung zwingen und ihn zwischen einer schlechten Möglichkeit und einer noch schlechteren wählen lassen würden, kam ihm im Augenblick weniger wichtig vor. Und auch die Idee, mit der Brand auf einmal liebäugelte, dass Tommy doch nächstes Jahr für das Amt des Oberstaatsanwalts kandidieren sollte, wenn sie erst gegen Rusty Sabich einen Schuldspruch erreicht hatten, ließ ihn kalt. Falls das wirklich der Fall sein sollte und eine Richterstelle frei wurde, würde Tommy wahrscheinlich Brand den Stab zuwerfen. Jedes Mal wenn Brand laut in dieser Richtung spekulierte, brachte Tommy ihn zum Schweigen. Politik war nie seine Leidenschaft gewesen. Was Tommy Molto wirklich am Herzen lag, das hatte ihm auch schon in seinen Jahren als einfacher Staatsanwalt am Herzen gelegen. Gerechtigkeit. Die Frage, ob etwas richtig war oder ob es falsch war.
Wenn sie also vor zwanzig Jahren einen Unschuldigen angeklagt hatten, dann wäre er der Erste, der sich bei Rusty dafür entschuldigen würde. Und wenn das Gegenteil der Fall war, wenn Rusty Carolyn getötet hatte - was dann? Er wusste es sofort. Es würde sein wie seine Ehe. Es würde sein wie seine Begegnung mit Dominga, als er sich in sie verliebt hatte. Und sie Tomaso bekommen hatten. Der einzige dunkle Fleck auf seiner Karriere würde weggewischt werden. Aber noch wichtiger war, dass Tommy selbst endlich Gewissheit hätte. Das Schuldgefühl, das seit damals immer noch an ihm nagte, weil er so dumm gewesen war, Nico gegenüber aus der Schule zu plaudern, würde sich auflösen. Er würde im Nachhinein recht bekommen, in seinen eigenen Augen mehr als in allen anderen. Er würde neunundfünfzig Jahre alt sein. Und praktisch neu geboren. Nur Gott konnte ein Leben so von Grund auf neu erschaffen. Tommy wusste das. Er nahm sich einen Moment Zeit, um schon im Voraus ein Dankgebet zu sprechen.
Dann hörte er Brand in sein Büro nebenan poltern und ging sofort rüber. Jim hielt noch seinen Aktenkoffer in der Hand und war erst halb aus dem Mantel, als er überrascht Tommy in der Tür stehen sah. Der hohe Herr im Sklavenquartier. Er starrte ihn einen Moment lang an. Dann lächelte er. Und sagte das, wovon Tommy immer gewusst hatte, dass jemand es irgendwann sagen würde.
Brand sagte: »Er war's.«